Ess-Brechsucht oder Bulimie (Bulimia nervosa)

Seit einigen Monaten leide ich an Esssucht. Wenn ich mit anderen esse, esse ich wie immer gesund. Aber wenn ich alleine bin, kann es nicht ungesund genug sein - ich trinke Rahm, schlinge Kekse und esse eigentlich alles, bis nix mehr da ist und ich viel zu viel gegessen habe. Ich habe auch schon probiert, mich zu übergeben, aber das funktioniert bei mir eigentlich nicht. Darum habe ich auch schon Abführmittel geschluckt und so das schlechte Gewissen und ungute Hassgefühl etwas beruhigt. Danach geht es mir beschissen, ich schäme mich. Ich sag mir dann immer, das war das letzte Mal und ab jetzt gibt’s mittags nur noch Salat und abends Suppe oder gekochtes Gemüse. Aber ich kann einfach nicht anders, ich kann mich nicht dagegen wehren...
— R.S. Betroffene

Kriterien für die Diagnose Bulimie

Bei der Bulimie kommt es zu wiederholten «Essattacken». Mehr oder weniger grosse Mengen an Lebensmitteln werden in einer Zeitperiode gegessen. Ein Essanfall kann sehr kurz sein oder mehrere Stunden dauern. Während des Essanfalls hat die Person das Gefühl, keine Kontrolle über das Essverhalten zu haben.

Nach dem Essen kommt es zu kompensierenden Massnahmen: typisch ist Erbrechen. Möglich ist auch der Missbrauch von Abführmitteln, harntreibenden Mitteln (Diuretika) oder Einläufen, Fasten wenn sich die Person übermässig körperlich betätigt.
Man kann hierbei den Purging-Typ (Erbrechen, Abführmittel, Diuretika und/oder Einläufen) vom Nicht-Purging-Typ (Fasten, übermässige körperliche Tätigung) unterscheiden, wobei viele Personen mit Bulimie Verhaltensweisen beider Typen zeigen.

  • Die Essattacken und das kompensatorische Verhalten kommen über drei Monate mindestens zweimal pro Woche vor.

  • Personen mit Bulimie beschäftigen sich gedanklich sehr viel mit Essen, und erleben eine Gier oder einen Zwang danach, zu essen.

  • Das Selbstwertgefühl von Menschen mit Bulimie hängt übermässig stark mit der Figur und dem Körpergewicht zusammen; Personen mit Bulimie erleben sich in der Regel als zu dick.

  • BMI grösser als 17.5. Wenn der BMI kleiner gleich 17.5 ist, liegt eine Magersucht vom Binge-Eating/Purging-Typ vor.

Wissen: Betroffene haben während eines Anfalls keinen Einfluss darauf, was und wie viel sie essen. Binge-Eating ist eine Krankheit und nicht auf Versagen oder mangelnde Willensstärke zurückzuführen. Viele Betroffene beschreiben es als Trance-Zustand, als nicht sich selbst sein. Nachher denken sie, war das wirklich ich...

Atypische Bulimie oder «Nicht näher bezeichnete Essstörung»

Da Bulimie streng genommen mit Esssattacken einhergeht, vergeben Kliniker bei Personen, die das für Bulimie typische Verhalten und Erleben zeigen, dabei aber nie oder nur selten Essattacken haben, je nachdem die Diagnose atypische Bulimie oder Nicht näher bezeichnete Essstörung (Eating disorder not otherwise specified EDNOS). Diese Diagnose vergibt man auch, wenn Nahrung gekaut und ausgespuckt wird, aber nicht geschluckt wird.

Bulimie: Weitere Merkmale

  • Während einem Essanfall essen Menschen mit Bulimie oft heimlich und allein. Für ihr Verhalten und das damit verbundene Gefühl von Kontrollverlust empfinden sie oft Scham und Selbstverachtung. Vielen fällt es sehr schwer, anderen Personen über die Bulimie zu erzählen.

  • Essanfälle werden typischerweise ausgelöst durch unangenehme Stimmung oder Erregung jeglicher Art, zwischenmenschliche Belastungen, Spannung und unangenehmes Körpergefühl sowie auch durch Hunger nach diätartigem Essverhalten. Eine gewisse Entfremdung ist typisch: So fällt es vielen Personen schwer, zu erkennen, welche Gefühle und Gedanken sie vor dem Essanfall konkret beschäftigen oder belasten.

  • Während dem Essanfall kann die negative Stimmung kurzfristig einem ekstatischen Zustand weichen oder aber auch einem Gefühl von Gleichgültigkeit. Die unangenehme Spannung sinkt und löst sich nach dem Erbrechen in einem Gefühl von Entspannung und Erschöpfung auf, das mehr oder weniger stark durch Scham- und Versagensgefühle überschattet werden kann.

  • Kalorienzählen und Auf-die-Waage-Stehen sind häufig.

  • Menschen mit Bulimie erkennen in der Regel klar, dass ihr Essverhalten gestört ist. Viele leiden sehr darunter.

Psychische Folgen

Depressionen

Nicht selten geht Bulimie mit deprimierten Zuständen oder Depressionen einher. Häufig sind auch Angstsymptome und Angststörungen.

Substanzmissbrauch

30% der Menschen mit Bulimie haben Erfahrung mit dem Missbrauch von Alkohol oder anderen Substanzen.

Überdurchschnittlich häufig sind auch schwierige Persönlichkeitszüge, die das persönliche Wohlergehen und den sozialen Umgang mit anderen beeinträchtigen.

Körperliche Folgen

Das Erbrechen und der Gebrauch von Abführmitteln und/oder entwässernde Medikamente können zu einem Flüssigkeits- und Elektrolytungleichgewicht führen (zu wenig Kalium oder Natrium, metabolische Alkalose oder Azidose usw.). Dieses Ungleichgewicht kann zu Kreislaufbeschwerden oder in schweren Fällen zu lebensgefährlichen Herzrhythmusstörungen führen. Selten, aber auch sehr gefährlich, sind Risse der Speiseröhre oder des Magen-Darm-Traktes. Weiter können wiederkehrende Verdauungsprobleme auftreten, der Flüssigkeits- und Salzverlust, der unter anderem Wassereinlagerungen im Gewebe (sogenannte Ödeme) verursachen kann, Blähungen.

Bulimie ist oft von Schwächeanfällen und von Magendarmbeschwerden begleitet. Die Speicheldrüsen können vergrössert sein. Wenn der Würgereflex mit Finger/Hand ausgelöst wird, kann es zu Verletzungen an der Hand durch die Zähne kommen. Gelegentlich kommt es zu Störungen im Menstruationszyklus. Mögliche Ursachen hierzu sind Gewichtsschwankungen, Mangelernährung oder emotionaler Stress. Bei häufigem Erbrechen werden die psychische und körperliche Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Personen leiden dann unter Konzentrationsstörungen und chronischer Müdigkeit.

Zahnschäden

Die körperlichen Begleiterscheinungen der Bulimie verschwinden in der Regel, wenn sich das Essverhalten normalisiert. Eine Ausnahme sind die Zähne: Häufiges Erbrechen führt zu stetigem Kontakt mit der aggressiven Magensäure. Dies kann zu einem erheblichen und dauerhaften Abbau des Zahnschmelzes und zu Zahnfleischentzündungen führen. Ebenfalls steigt die Kariesanfälligkeit. Infoflyer Zahnerosionen

Auch wenn Bulimie selten mit lebensgefährlichem Untergewicht einhergeht, ist sie weit mehr als eine Lifestyle-Erkrankung, sondern hat ebenfalls gesundheitliche Folgen:

Soziale Folgen

Durch die häufigen Essattacken können Betroffene in eine finanzielle Notlage geraten, weil sie ihr gesamtes Geld für Essen ausgeben.

Verlauf

Die Bulimie beginnt meist in der späten Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter. Oft geht ihr eine Anorexie oder eine Phase der Diät/des Fastens (bei Normalgewicht oder Übergewicht) voraus. Die Verläufe sind völlig unterschiedlich: Bei den einen bleibt es bei einer relativ kurzen bulimischen Krise, bei anderen wird die Bulimie zur chronischen Begleiterin. Typisch für viele ist auch der Wechsel von bulimischen Phasen mit Phasen, in denen das Essverhalten mehr oder weniger normal ist, oder in denen Diät gehalten wird. Bei vielen Menschen mit Bulimie verbessert sich die Symptomatik im Langzeitverlauf.


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Selbsthilfe/Infoflyer: Bulimie

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Fachtext:
Kognitive Verhaltenstherapie bei Bulimia nervosa, Corinna Terpitz Artikel


Bulimie: Verstehen, Unterstützen, Behandeln

ein Film der Universität Freiburg/DE

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