In den letzten Jahren haben Forscher herausgefunden, dass z. Bsp. Anorexia nervosa das Ergebnis einer Reihe komplexer Ursachen ist. Umweltfaktoren, wie die Exposition gegenüber der herrschenden Ernährungs-/Diätkultur und gewichtsorientiertes Sozialverhalten, spielen eine Rolle. Aber auch die Gene eines Menschen haben einen erheblichen Einfluss. Menschen, die Familienmitglieder mit Anorexia nervosa oder anderen Essstörungen haben, entwickeln mit grösserer Wahrscheinlichkeit selbst Magersucht. Ein Familienmitglied ersten Grades mit der Störung zu haben, erhöht Ihr Risiko erheblich. Nachstehend die Übersetzung eines interessanten Artikels:

Ich habe meine Essstörung geerbt und die Wissenschaft stimmt mir zu

Warum ich mich sofort für diese Studien angemeldet habe - vielleicht möchten Sie es auch tun

Von Michelle Konstantinovsky

Eine unterhaltsame Tatsache über Essstörungen ist (!! nur ein Scherz - nichts davon macht Spass): Wenn Ihnen jemand unterstellt, dass Magersucht, Bulimie oder eine andere Essstörung eine eigene Wahl, ein Eitelkeitsproblem oder das Produkt von zu viel Social-Media Konsum sind. Diese Person weiss nichts über Essstörungen. Wenn Essstörungen tatsächlich eines dieser Dinge wären, hätte ich höflich „Nein, danke“ gesagt, als negative Körperbildgedanken in der 1. Klasse auftauchten und eine ausgewachsene Magersucht mein Leben von der High School an völlig übernahm. Die Realität, welche die meisten Menschen nicht kennen oder nichts darüber wissen wollen, ist: Essstörungen sind komplex, rücksichtslos und aus vielen Schichten von miteinander verwobenen biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren aufgebaut. Dank Wissenschaftler*innen, welche an vorderster Front gegen diese potenziell tödlichen Störungen kämpfen, kommen kontinuierlich neue Forschungsergebnisse ans Licht. Sie geben Aufschluss darüber, wie unsere Gene uns eine verhängnisvolle Falle stellen und unsere Genesung beeinflussen können.

Diesen Monat startet Cynthia Bulik, PhD, Gründungsdirektorin des Kompetenzzentrums für Essstörungen der Universität von North Carolina, die Forschungsstudie der Genetikinitiative für Essstörungen (EDGI). Bulik und ihr Team haben die Studie bereits in Neuseeland und Australien gestartet und führen sie nun in der USA durch. Ihr Ziel ist weltweit 100.000 Personen einzubeziehen, die zu irgendeinem Zeitpunkt in ihrem Leben an Anorexie, Bulimie oder einer anderen Essstörung erkrankt sind. Die aktuelle Forschung basiert auf den Ergebnissen der Anorexia Nervosa Genetics Initiative (ANGI), der ersten internationalen Studie zur Identifizierung von Genen, die das Risiko für Anorexie erhöhen.

"ANGI wirft ein neues Licht auf die Ursachen von Anorexia nervosa und diese neuen Resultate haben uns dazu inspiriert, dieselben Strategien anzuwenden, um auch die genetischen Ursachen von Bulimie und anderen Essstörungen zu untersuchen", sagt Bulik.

Ein Verwandter 1. Grades von jemandem mit einer Essstörung, entwickelt mit bis zu 12-mal höherer Wahrscheinlichkeit eine Essstörung als ein Verwandter von jemandem ohne Essstörung.

Experten wissen seit langem, dass Essstörungen auf eine Kombination von Erb- und Umweltfaktoren zurückzuführen sind. Bisher hatte sich aber niemand tief genug in diese Materie vertieft, um die spezifischen Gene zu lokalisieren. Die Ergebnisse von ANGI waren für Forscher und Patienten aufschlussreich und zeigen, dass die Ursachen von Magersucht eine Kombination aus metabolischen und psychiatrischen Komponenten umfassen. Insbesondere identifizierte ANGI acht genetische Varianten, die signifikant mit Anorexia nervosa assoziiert sind; die aktuelle Forschung zeigt, dass die Ursprünge sowohl physischer als auch psychischer Natur sind.

Frühere Untersuchungen von Bulik et al. ergaben, dass ein Verwandter 1. Grades von jemanden mit einer Essstörung bis zu 12-mal häufiger selbst eine solche entwickelt als ein Verwandter einer Person ohne Essstörung. Ich war mir dieser Statistiken schon lange bewusst, hatte aber nie wirklich untersucht, wie meine Magersucht von der Bulimie meiner Mutter herrühren könnte, bis Buliks Forschungen mich dazu zwangen, unsere Probleme vertiefter anzugehen.

Während meiner gesamten 36 Lebensjahre war meine Mutter meine beste Freundin. Seit mindestens 30 Jahren kämpfen wir beide um unser Gewicht. Wir haben um meinen Körperhass gekämpft, um meine Weigerung, die natürlichen, familiär auftretenden Kurven zu akzeptieren. Über meine Wut auf meine Mutter, wenn sie mir sagt, wenn ich zu dünn bin und meine Wut, mich selbst nie dünn genug zu fühlen. Unabhängig davon, wo die Waage steht, hat sich die psychologische Qual über die Essstörung, als auch in unserer Beziehung zu ihr und zu uns fortgesetzt. Dies ist ein Beweis, dass Essstörungen „ernst zunehmen sind“, unabhängig davon, ob sie eine TV-Filmproduktion wert sind oder nicht. Ehrlich gesagt, leiden die meisten Menschen jahrelang still vor sich hin oder fallen tot um, ohne jemals „den allgemeingültigen Vorstellungen“ entsprochen zu haben. Ich sah nie aus wie die abgemagerte Hauptrolle eines TV-Films oder eines Specials über Magersucht. Ich ertrug viele gut gemeinte Aussagen wie „aber du siehst doch vollkommen gesund aus“. Ich verbrachte Jahre damit, mich selbst zu verabscheuen, und schleppte meine Mutter auf diesem deprimierenden Weg mit, währenddem die Ärzte versuchten, meine fehlenden Perioden mit Geburtenkontrolle zu behandeln und sie gleichzeitig die Rolle der Familie hinterfragten.

Meine Mutter erinnert sich an keine Zeit in ihrem Leben, in der sie nicht übergewichtig war. Erst als sie als Erwachsene aus Russland nach Amerika eingewandert war, wurde bei ihr eine Hypothyreose diagnostiziert. Dies kam viel zu spät, um eine Lawine verzweifelter, krankhafte Verhaltensweisen zu verhindern. Zuerst kamen Jahre des Erbrechens, dann Hungerdiäten und inzwischen verbotene Arzneimittel, darunter Fen-Phen und Redux, zwei Medikamente, die schließlich aus den Regalen genommen wurden, weil sie Herzklappenprobleme verursachten. Ich erinnere mich, wie ich sie zu Diätärzten begleitete und wenn ich die Küchenschränke öffnete auf lebenslange Vorräte an SlimFast-Riegeln und künstlichen Süssungsmitteln stiess. Für lange Zeit waren ihre Gewohnheiten eher abstossend als das sie mich beeinflusst hätten. Ich hasste es, dass sie so viel geistige Energie dem Zählen und Verbrennen von Kalorien widmete. Und dann, in meinem Juniorjahr an der High School, passierte etwas und ich begann eine jahrzehntelange Reise, die zwei Aufenthalte auf der stationären Abteilung und eine Menge Kämpfe beinhaltete, währenddem die Essstörung meiner Mutter aufhörte und ihre Aufmerksamkeit sich meiner zuwandte.

Ich habe während meinem zweiten stationären Aufenthalt an Buliks ANGI-Forschung teilgenommen -  ich denke, dass sie mich endlich weit genug aus meiner Störung gestossen hat, damit ich endlich sehen konnte, wie viel sie von meinem Leben gestohlen hatte. Ich musste nur eine zweiminütige Blutabnahme in einer Arztpraxis machen, zu der mich meine Mutter an meinem 30. Geburtstag begleitete. Bis zum Abschluss der ANGI Studie im Juli 2016 hatten Bulik und ihr Team erfolgreich Proben von über 13.000 Menschen mit Magersucht und über 9.000 Kontrollpersonen (Menschen, die die Krankheit noch nie hatten) gesammelt. Aber das war erst der Anfang. Die ANGI Proben flossen auch in das Psychiatric Genomics Consortium (PGC) ein, die bisher ehrgeizigste Zusammenarbeit der Psychiatrie. Forscher aus aller Welt wollten Genomdaten von 100.000 Proben für jede psychische Störung analysieren.

Die ANGI Studie kam zum Schluss, dass Magersucht eine „metabolisch-psychiatrische Störung“ sein kann und dass es wichtig sein wird, sowohl metabolische als auch psychologische Risikofaktoren zu berücksichtigen, wenn neue Wege zur Behandlung dieser potenziell tödlichen Krankheit erkundet werden.

Laut dem im Juli 2019 in Nature Genetics veröffentlichten Artikel von Bulik und ihre Kollegen hat ANGI zum ersten Mal gezeigt, dass es eine genetische Grundlage für Magersucht gibt, die sich mit Stoffwechselmerkmalen überschneidet, einschließlich der Art und Weise, wie der Körper Zucker und Fette verarbeitet, sowie anthropometrische Eigenschaften (Körpermessung), die nicht auf die genetischen Effekte zurückzuführen sind, die den Body Mass Index (BMI) beeinflussen. Das Ergebnis: Es spielt keine Rolle, welche Größe, Form oder welches Gewicht Sie haben - jeder mit diesen Stoffwechselmerkmalen kann anfällig für Magersucht sein.

"Bisher haben wir uns auf die psychologischen Aspekte der Magersucht konzentriert, beispielsweise auf das Streben der Patienten nach Dünnheit", sagt Bulik. „Unsere Ergebnisse weisen stark daraufhin, auch die Rolle des Stoffwechsels in den Mittelpunkt zu rücken, um zu verstehen, warum Menschen mit Anorexie auch nach einer therapeutischen Genesung häufig auf gefährlich niedrige Gewichte zurückfallen. Das Versäumnis, die Rolle des Stoffwechsels zu berücksichtigen, könnte zu der schlechten Erfolgsbilanz bei der Behandlung dieser Krankheit beigetragen haben. “

ANGI fand auch heraus, dass sich die genetische Basis von Anorexia nervosa mit anderen psychiatrischen Störungen wie Zwangsstörungen, Depressionen, Angstzuständen und Schizophrenie überschneidet. Genetische Faktoren, die mit Anorexie verbunden sind, beeinflussen auch die körperliche Aktivität, was die Tendenz erklären könnte, dass Menschen mit Anorexia nervosa hoch aktiv sind (als zwanghafter ,Übertrainierer’ erkenne ich mich). ANGI kam zum Schluss, dass Magersucht eine „metabolisch-psychiatrische Störung“ sein kann und dass es wichtig sein wird, sowohl metabolische als auch psychologische Risikofaktoren zu berücksichtigen, wenn neue Wege zur Behandlung dieser potenziell tödlichen Krankheit erkundet werden. Jetzt sind Bulik und ihr Team bereit, mehr über EDGI zu erfahren.

Ich könnte nicht bereiter sein, an EDGI teilzunehmen und meine Mutter zu dieser Blutabnahme mitzunehmen. Nach unserem Laborbesuch für die ANGI-Probe verbrachten wir den Abend meines Geburtstages in einer Familientherapiesitzung. "Ich dachte immer, wenn ich lauter und länger rede, würde alles gut werden", sagte sie mir. "Aber in dieser Nacht, als der Therapeut mir sagte:" Nichts, was Sie tun oder sagen, kann die Situation ändern - es liegt nicht an Ihnen, es liegt außerhalb Ihrer Kontrolle ", klickte bei mir etwas." Es schien, als ob die Ereignisse dieses Tages vieles auflösten und einen vorher nicht vorhandenen Raum schafften, in dem wir die Vergangenheit erkennen und loslassen konnten, um einen vorsichtigen Schritt nach vorne zu machen. An diesem Punkt waren wir beide bereit weiterzumachen.

Michelle Konstantinovsky stammt aus San Francisco, ist Journalistin und Fan der Popkultur. Finden Sie sie @michellekmedia und besuchen Sie www.michellekmedia.com

Originallink: https://elemental.medium.com/i-inherited-my-eating-disorder-and-science-agrees-97b5abbf91c